DVD-Tipp: Eine besondere Form von Fieber

Über die wunderbar vorsichtigen Versuche Harald Bergmanns, den weiten Kontinent Hölderlin zu erkunden
Von
Dirk Pilz
Berliner Zeitung, 17. Januar 2013

Er war verrückt. Vielleicht. Oder er hat verrückt gespielt. Oder er hat angefangen, verrückt zu spielen und nicht mehr aus seiner Rolle herausgefunden. Das glaube ich. Aber das spielt keine Rolle. Denn er hat gottlob geschrieben, Gedichte, Hymnen, Elegien. Texte, die man nicht los wird, wenn man sie einmal an sich herangelassen hat. Wenn man sie gesummt, gesungen, geträumt, gelesen und wieder gelesen und dabei versucht hat, sie zu deuten. Es sind berühmte Texte darunter. Der berühmteste hat zwei Strophen. So beginnt die zweite: "Weh mir, wo nehm' ich, wenn/Es Winter ist, die Blumen, und wo/Den Sonnenschein,/Und Schatten der Erde?". Ja. wo?

Friedrich Hölderlin heißt dieser Dichter, der vielleicht verrückt, in jedem Fall aber einer der größten in deutscher Sprache war, wenn Größe hier überhaupt die richtige Kategorie ist. Weite wäre die treffendere, oder Höhe. Er starb 1843 in Tübingen, in einem Turm, den er seit 1806 bewohnt hatte. Schon damals traten bei seinen Lesern erste Erscheinungen jener sonderbaren Lektürebegleitsymptome auf, die man als Hölderlin Fieber bezeichnen muss.
Harald Bergmann, der Filmmacher, ist auch davon befallen. Er hat drei abendfüllende Kino- und einen in Leben und Werk Hölderlins einnführenden Dokumentarfilm gedreht. Sie sind jetzt in einer sehr schönen "Hölderlin- Edition" erschienen: vier DVDs, vier Textbücher, einiges an Bonusmaterial. Der stärkste Film ist "ScardanelIi", herausgekom-
men vor 13 Jahren. Er handelt von Hölderlins Turms-Jahren, und Bergmann verwendet ausschließlich historisches Material: Gedichte, Erinnerungen, Briefe, Akten. Es gibt schwarz-weiße Szenen, in denen Andre Wilms als Hölderlin auftritt: eine verhuschte, plötzlich aufbrausende und ebenso plötzlich in sich versackende Figur. Ein Mann, der an Blumen riecht, auf dem Bett hockt und immer den Eindruck macht, als sei er mit einem Seelenbein irgendwo anders, wo auch immer. Dazwischen: fingierte lnterviewszenen mit Zeitzeugen, Hölderlin mit Maske, Musik von Bach. Und stets sucht die Kamera nach Wegen, Hölderlin von einer unbekannten Seite zu erwischen.
Das ist es, was Bergmanns Filmannäherungen so besonders, so reich macht: die wundervoll vorsichtigen Versuche, Hölderlin aus immer anderen Richtung zu erkunden. Im ersten Hölderlin-FiIm, "Lyrische Suite" (1992), nimmt er fünf späte Fragmente zur Grundlage, um sich den dichterischen Orten in exzentrischen Kreisen zu nähern. Es geht nach Rom und Frankfurt am Main, nach Avignon und zum Berg Athos. Nicht, um die Dichtung durch die Wirklichkeit zu beglaubigen, was ohnehin ein alberner Versuch wäre. Sondern um die Eigenmacht und -rechte der Poesie zu erkunden, also auch, um Hölderlin aus den Klauen der ideologischen Vereinnahmungen zu befreien. Und schon hier findet Bergmann zu seinem filmischen (und hermeneutischen) Verfahren des Perspektivenverschnitts: Die poetische Wahrheit duldet keine eindeutigen Richtsprüche, sie liegt diesseits bloßer Geschmäcker, jenseits schierer Zeitgeistigkeit. Darauf läuft es bei Bergmann hinaus: auf's Schweben der Bilder, Verwischen der Vorurteile.
Noch ausgeprägter, auch ausgereifter ist diese anspruchsvolle Lese- und Filmtechnik in "Hölderlin Comics" (1994), mit den beiden Zittersprechkünstiern Udo Samel und Walter Schmidinger: ein zarter, aber entschiedener Film, der dem Dichter Hölderlin alles, den vorlaut verbreiteten Gerüchten um seinen vermeintlichen Wahnsinn dagegen nichts glaubt.