Abenteuer Dichtung in der Moritzburg

Von
Andreas Montag
Mitteldeutsche Zeitung, 19.10.12

Was für eine schöne Provokation - und Hölderlin, dem Helden dieser Kunst-Arbeit, ganz und gar angemessen: In Zeiten, da das Wort Medien ein Synonym für Tempo geworden ist und allenthalben die Meinung grassiert, man könne sich in höchstens zehn Minuten ein umfassendes Bild über welchen Sachverhalt auch immer verschaffen, hat der Philosoph, Hölderlin-Fachmann und Regisseur Harald Bergmann einen multimedialen Brocken in der halleschen Moritzburg installiert, der erst einmal Zeit vom Besucher fordert, bevor ihm ein bemerkenswertes Kunsterlebnis geschenkt werden wird.

"HIN - Hölderlins Archive" heißt das Projekt, das man als eine moderne Sinfonie gesampelter Filmsequenzen - aber auch als eine hochambitionierte Literaturrecherche mit medialen Mitteln bezeichnen kann. Das Schönste an dem Experiment am Museumsgast aber ist: Man muss zwar Kapital in Form von Lebenszeit investieren, aber beileibe kein Hölderlin-Fachmann sein. Die Freude an der Sprache, die Neugier auf den Weltblick eines der großartigsten Dichter überhaupt reichen aus.
 
Das Kürzel "HIN", das man ja auch als Aufforderung an das Publikum lesen kann, steht für "heroisch - idealisch - naiv" und geht auf den Dichter Johann Christian Friedrich Hölderlin selbst zurück. Aus diesen drei Tönen wollte er die Einheit von Natur, Herkommen und Mythos komponieren.
 
Ausgehend und fasziniert von den sich in Schichten überlagernden Texten und Konzepten Hölderlins hat Harald Bergmann seine Filme konzipiert, namentlich unter Bezug auf das Homburger Folioheft, in dem der Dichter in seiner letzten Schaffensphase Gedichtentwürfe und Textfragmente notiert hatte, bevor man ihn entmündigte und zeitweilig in eine Irrenanstalt sperrte.
 
In der Installation dekonstruiert Bergmann seine vier Hölderlin-Filme, setzt Teile neu zusammen und verschneidet sie mit Teilen des umfangreichen Archivmaterials, das bei den Dreharbeiten entstanden ist und nur in Teilen Verwendung fand. Diese Bilder- und Wortfülle, streng komponiert, wird in der Moritzburg in einem äußeren Parcours aus drei Mal drei und einmal zwei großen Videoprojektionen sowie einem Achteck aus kleineren Monitoren in der Mitte des Raumes gezeigt.
 
Dabei wird dem Neugierigen keine strukturierende Reihenfolge auferlegt, diese Schau ist eben nicht linear, sondern versucht, das poetische Prinzip Hölderlins verständlich zu machen. "Meine Arbeit ist eine Übersetzung, Ich versuche, Hölderlins Kosmos in einem anderen Medium zu erwecken", sagt Bergmann. Ihm geht es vor allem auch darum, die Klischees zu knacken, die als verbürgte Wahrheiten über den Dichter kursieren: Dass er ein Rechter gewesen sei, ein armer Irrer, der an einer unglücklichen Liebe zerbrach.
 
Und tatsächlich: Lässt man sich auf Bergmanns Methode ein, beginnt Hölderlin gleichsam zu sprechen. Berühmte Schauspieler wie Walter Schmidinger und Otto Sander lesen seine Texte, Hölderlin-Kenner und -Freunde wie der Herausgeber Dietrich "D.E." Sattler und der Komponist Heinz Holliger sprechen über ihr Bild von dem Dichter. Daneben läuft seine Handschrift in krakeligem Sütterlin über einen Schirm, wie von Geisterhand animiert - als sähe man ihm direkt über die Schulter.
 
Und noch einen Schirm weiter wachsen gestrichelte Landschaften und prallen auf Filmbilder von Bordeaux. Dorthin ist Hölderlin seinerzeit zu Fuß gereist, wie er auch nach Halle, Dessau und Leipzig gegangen ist. Die Installation folgt ihrem Gegenstand in seiner Wirkung höchst verblüffend: Mag man früher schon in den Texten Hölderlins ein Suchtpotenzial entdeckt haben, so geht es einem in Betrachtung von Begmanns rauscherzeugendem Kaleidoskop jetzt ebenso.
 
Bis in den Rhythmus scheinen die Bilder, die man eben sieht, die Töne, die aus dem Kopfhörer dringen und die benachbart flackernden Filmsequenzen aufeinander abgestimmt. Dabei wird man die Zeit glatt vergessen können, so groß ist die Lust, noch mehr von diesem permanent ablaufenden Bilder- und Wortkunstwerk und seinem Gegenstand zu genießen. Die Kulturstiftung des Bundes, vertreten durch Friederike Tappe-Hornbostel, ist denn auch des Lobes voll für die von Cornelia Wieg betreute Schau. Die Stiftung hat Bergmanns Projekt großzügig gefördert und darf sich nun auf das Schönste bestätigt fühlen: "Eine mutige, wegweisende Arbeit" sei das, die auf die Frage, wie man Dichter heute präsentieren könne, eine überzeugende Antwort gebe. So ist es: Hingehen, ansehen, staunen!