Lyrische Suite/Das untergehende Vaterland
L'HEBDO - Internationes Filmfestival Locarno 1993
In den siebziger Jahren bezeichnete der deutsche Filmautor Alexander Kluge das Gros der Kinofilme als "gepflegte Unterhaltung", so als sei Kino ein "Spaziergang auf Gartenwegen in einem Parkgelände" und forderte zum Verlassen der Gartenwege auf, schließlich würden Kinder lieber ins Gebüsch gehen, lieber im Sand oder in Schrotthaufen spielen. Mit seinem ersten langen Kinofilm knüpft Harald Bergmann an diese Forderung an und präsentiert uns Kinopoesie, die den eingeübten Rezeptionsmechanismen konsequent aus dem Weg geht.
Der Kern von Harald Bergmanns "Das untergehende Vaterland" (La patrie qui sombre) ist das lyrische Werk von Friedrich Hölderlin, der sich zu seiner Zeit ebenso wie heute Bergmann mit seiner Filmpoesie quer gelegt und bei Zeitgenossen wie Schiller und Goethe Unverständnis und Missgunst geerntet hat. Assoziativ, wuchernd und textanalytisch zugleich baut "Das untergehende Vaterland" verschiedenste Spannungsbögen auf, die die bald 200 Jahre zurückliegenden Texte und Visionen von Hölderlin in Dialog zu deutscher Geschichte und Gegenwart und zum Begriff Vaterland bringen. Vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte Deutschlands, dem Niedergang der DDR und der Wiedervereinigung, erhält Hölderlin eine aktuelle Deutung, in der das neue Bild vom Vaterland wie Phoenix aus der Asche steigt.
Nicht argumentatorisch, sondern seismografisch setzt Harald Bergmann fünf ausgewählte Textpassagen von Hölderlin in einen filmischen Kontext, der mit den filmischen Positionen des Dokumentarischen, Poetischen und Lyrischen um die Wortwahl und die syntaktische Konstruktion der Hölderlinschen Sprache kreist und dabei verborgene Schichten wie auch den Missbrauch seiner Lyrik durch die nationalsozialistische Propaganda freilegt.
Harald Bergmanns Annäherung an Hölderlin geht vom Schreibprozess des Dichters aus. Mit Hilfe filmischer Animation erleben wir seine Niederschrift, die nicht Zeile für Zeile eine Gedankenkette festhält, sondern, wild die Fläche und Dimension des Papiers nutzend, da und dort, zum Teil übereinanderliegend und ineinander sich keilend Worte und Wortzellen plaziert. Diese Schriftanimation baut Harald Bergmann in ein assoziationsreiches Netz aus Bildern, Klängen und Lesungen ein: Wir erleben, wie die Schauspieler Otto Sander und Udo Samel sowie der Filmautor und Hölderlinkenner Jean-Marie Straub diese Textpassagen vortragen und deuten, und wir sehen Leute von der Strasse, die mit den gleichen Texten konfrontiert nach konkretem Sinn eifern.
Und da ist der Blick von Harald Bergmann, der sich als Kinoauge im Sinn der kinematografischen Avantgarde entpuppt , der sich einlässt auf den Zufall vor der Linse: Suchend kreist dieses Kinoauge schon im filmischen Prolog "Lyrische Suite", die dem Hauptfilm "Das untergehende Vaterland" vorangestellt ist und uns mit visuellen Fundsachen darauf einstimmt, um eine italienische Piazza und lässt uns einsinken in die sinnliche Qualität dieses absolut subjektiven "Cinema du réel", das weder narrativ noch beschreibend sein will. "Das untergehende Vaterland' ist Kino pur, das sich jeder Inhaltsbeschreibung entzieht.
Faszinierend ist Bergmanns Collage, weil die gefundenen Bilder und Töne mit einer Montagetechnik verdichtet sind, die spontane Sinnzusammenhänge anbietet. Und diese wecken in jedem Zuschauer andere Emotionen und Einsichten in die Hölderlinschen Visionen. Wer sich der suggestiven Kraft von Bergmanns Filmpoesie öffnet - und dies setzt keine Kenntnisse der Hölderlinschen Dichtung voraus -, erlebt diesen Frühromantiker in völlig neuer Weise: Da wird klar, dass der Hölderlinsche Schreibprozess die Montagemöglichkeiten des Mediums Film vorausgenommen hat.