VORZEIT
Dieser Film war, ist überfällig! Als Hommage an ein Land, das nur noch in Verbindung mit dem Wort Krise vorzukommen scheint. „Vorzeit – Eloge auf Griechenland“, so der Titel, den der Filmemacher Harald Bergmann dem ersten Teil seines Projekts über Griechenland, Kreta und die noch viel ältere minoische Kultur gibt. Über ein Land zwischen Mythos und Mythen: Mythos sowohl im Sinn der alten Erzählung, mit welcher – der Zeus-Erzählung – der Film anhebt, wie auch in jenem anderen Sinn, welcher Mythos und Mythen als Verzerrung der Wahrheit, Entstellung, als Lüge begreift – all die Klischees, Zuschreibungen, Ressentiments und Vorurteile, die sich die einen Gruppen, Gemeinschaften, Nationen über die anderen machen, die Heimischen über die Fremden, die Deutschen, die artigen Europäer über die verschuldeten, unbotmäßigen Griechen.
Dementsprechend wollte 2015, im Jahr der großen „Krise“, auch keine Filmförderung das Projekt unterstützen (erst später konnte dank BKM und Medienboard der Film realisiert werden), und Harald Bergmann machte sich mit nichts als einer Pocket-Kamera (deren er vier Stück verbrauchte) auf den Weg zu den Ursprüngen des griechisch-kretischen Mythos in seiner doppelten Gestalt. Entstanden ist wie stets bei diesem allen filmischen und kommerziellen Konformismen trotzenden Regisseur ein höchst eindrucksvolles Werk, das diese beiden Aspekte des Mythos in einem kunstvollen Gewebe von Bildern, Stimmen, Klängen vorführt, in atemberaubenden, oft förmlich von der Kamera-Hand vibrierenden Bildern: von der idäischen Zeus-Grotte, vom Meer, dem Licht, der Großstadt Athen (inklusive Doku-Einblenden aus Berlin), zuweilen auch in rasantem Flacker-Ablauf, was als Erinnerungsfilm im Gedächtnis überdauert. Und ebenso in den Stimmen der Kritik, die den „Kulturrassismus“ und die Abwehrmechanismen geißeln, die nicht nur 2015 und nicht nur hierzulande erschreckend zum Ausdruck kamen. Aber auch und vor allem in den Stimmen aus dem Lande selbst, den wahren Stimmen der Menschen aus unterschiedlichen Milieus, vom Taxifahrer über den Intellektuellen bis zu jenem stets heiteren Luftikus mit Spitznamen Pipinelli, der mitten in der Landschaft den „Luxus“ eines Plumpsklos mit phantastischem Meerblick genießt. Ein gewitzter Lebenskünstler, ein moderner Diogenes, dem Sonne, Meer und sein täglicher Stuhlgang alles Heil auf Erden sind.
Und nicht zuletzt in den Stimmen der Frauen, der „Musen“, zwei griechische und eine deutsche, deren eindringlichste von der 80-jährigen Griechin Olga kommt, die in einer schlichten, gefassten Rede ein Manifest der Menschlichkeit bietet, als Ausdruck konkreter, gelebter Utopie. Angesichts der drohenden Spaltung Europas ein einzigartiges Dokument – und Präsent. Und mit ihnen all die Stimmen, die den Ursachen von Neid, Ressentiment, Fremdheit nachspüren und ihr Gegenbild zu entwerfen versuchen, ergänzt von den leisen Einlassungen des Regisseurs, der mit seinen behutsamen Fragen den Menschen die Zunge löst, sie zum Erzählen bringt, auf griechisch, englisch oder deutsch, und einmal wie im Selbstgespräch an den Betrachter die Frage weitergibt, ob die sogenannte Krise nicht eher bei uns als bei den Griechen zu finden sei ...
Die Erinnerung, die er aus seiner Jugend beiträgt, wie bei einer Wanderung auf der Hochebene ein alter einfacher Mann ihn aufnahm und bewirtete, der noch eine für deutsche Ohren schmerzliche Pointe folgte, gehört zu den fast lautlosen, sich tief in Ohr und Herz bohrenden Höhepunkten des Films. Und ebenso bohrend jene Fragezeichen, die er durch die Verweise auf den Hungerwinter von 1941/42 setzt, als die Nationalsozialisten das Land besetzt hielten und gerade auch wirtschaftlich bis zum letzten ausbeuteten, es ausbluteten im buchstäblichen Sinn. Über hunderttausend Tote fielen dem zum Opfer. „Schleichhändler, Diebe, Arbeitsscheue“, so lauteten die Zuschreibungen damals – wie heute.
Doch ist dies kein Thesenfilm. Seine Haltung ist die Frage, das sich Vortasten, voller Respekt und Empathie für das Gegenüber und nicht zuletzt für die Schönheit des Landes, seine Menschen, seine Musik, seine alten Mythen, sein Licht. Mündend in die von einem, der einmal zugezogen war, nachdenklich geäußerten Worte, auf welche Weise „this way of thinking grew up in this light“. Eine Frage zugleich nach der Quelle der Kraft dieses uralten Kulturvolks, welches das abendländische Denken wie kein anderes prägte – der Regisseur wird ihr im nächsten Teil des Projekts auch weiterhin folgen. Eine geradezu slapstickhafte Szene bringt dies einmal auf andere Weise zum Ausdruck, als jener Luftikus eine Pistole vorführt, die im Schuss auf den anderen abknickt und sich gegen den Schießenden selber richtet. Ein beißend-ironischer Kommentar zum weltweit herrschenden Waffenwahn und ein heiter-entschiedenes Nein zum allgegenwärtig drohenden Suizid.
Pathos, ein leises, Skepsis und zuweilen aufflackernder Humor sind die Ingredienzen dieses Films – rhythmisch-melodisch umrahmt, durchzogen vom Gesang Psarantonis, des berühmten kretischen Lyra-Spielers, der, in der grandiosen Zeus-Höhle sitzend, die Musik, die Natur als Gott, als Puls allen Lebens und Daseins preist. Geh mir aus der Sonne! Der legendäre Ruf – es ist, als würde auch er mit ihm erklingen. Wer Ohren hat, der höre – und sehe diesen Film.
Marleen Stoessel