Zur Ausstellung „HIN – Hölderlins Archive“
Von Anke Bennholdt-Thomsen
Harald Bergmann vermittelt Hölderlins dichterische Sprache in seinen Filmen auf drei Ebenen: auf der der Schriftlichkeit, die sich vor allem auf das Homburger Folioheft bezieht, auf der der Bildlichkeit, die jene Sprache mit sich bringt und hervorruft, und auf der der Lautlichkeit, wie sie den gesprochenen Versen eignet, – anders gesagt: als gelesene, als gesehene und hörbare Sprache.
Die Trickanimation der Handschrift Hölderlins und von Zeichnungen von seinen Gedichten sowie die unmittelbare oder assoziative photographische Wiedergabe von einigen Orten seines Lebensweges, und schließlich die ausführlichen Lesungen von Texten Hölderlins unterstreichen und unterstützen den Nachvollzug dieser seiner Zugänge zu Hölderlins Werk. Die beiden visuellen Dimensionen und die akustische der Sprache ergänzt der Filmer durch eine musikalische, insofern er eigene und fremde Kompositionen begleitend und zitierend einsetzt, wie er denn einen der Filme sogar „Lyrische Suite“ nennt, also einen Gattungsbegriff der Dichtung mit einem der Musik kombiniert.
Es handelt sich somit um eine vielfache Kommentierung von Hölderlins Spätwerk in unterschiedlichen Medien (Schrift, Bild, gesprochene Sprache, Musik), die darüber hinaus in einen Dialog mit ihrem Darstellungsobjekt treten, dem sie zutrauen, daß es dadurch, aller Hermetik zum Trotz, verständlicher werden kann.
Diese mehrfache Auseinandersetzung mit Hölderlin und seiner Sprache orientiert sich bei Bergmann an Hölderlins Lehre vom „Wechsel der Töne“ – einer poetologischen Lehre, die auf der Erfahrung des Dichtens beruht. Sie verdankt sich einem Vergleich der poetischen Verfahrensweise mit der Kompositionstechnik der Musik. Es handelt sich bei der Rede von Tönen also um musikalische Metaphern, die das wechselnde Verhältnis der Teile zum Ganzen der jeweiligen Dichtung betreffen. Hölderlin entnimmt den Vergleich der antiken poetologischen Schrift „Über das Erhabene“ von Pseudo-Longin, wie Martin Vöhler im Hölderlin-Jahrbuch (1992/93) gezeigt hat.
Der Dichter fragt sich nach der Genesis eines Gedichts, nach der Sprachfindung eines Eindrucks, der durch einen besonderen Stoff, eine bestimmte Wirklichkeit ausgelöst wird. Diese Erfahrung wird in Hölderlins theoretischen Aufsätzen allgemein strukturiert durch die Entgegensetzungen vom Ganzen und seinen Teilen, von Einigkeit und Trennung, von Natur und Kunst, von Geist und Leben, von Unendlichkeit und Endlichkeit. Die durch die Gegensätze und Widersprüche notwendig hervorgerufenen Spannungen erzeugen bei jedem dichterischen Werk eine eigentümliche Dynamik und in jeder poetischen Gattung eine regelmäßige Beweglichkeit. Dabei spielen einerseits die Natur mit ihren Elementen, Himmel und Erde, und andererseits die Resonanz der verschiedenen menschlichen Vermögen eine entscheidende Rolle.
Wie sich der naive Ton von der Empfindung speist, so der idealische von der Phantasie und ihren Vorstellungen und der heroische von der Leidenschaft, die um Erkenntnis ringt. In der Dichtung verrät sich der naive Ton an der nüchternen und natürlichen Beschreibung, der heroische an der Auseinandersetzung von Bestrebungen und Tendenzen, der idealische an ihrer Auflösung und damit an der Erhebung über die Bedürftigkeit; aber jeder der drei Töne ist prinzipiell in jedem dichterischen Gebilde vertreten, entweder als Grundstimmung oder als Kunstcharakter, welche sich antinomisch zueinander verhalten, oder als Geist, wie die Termini bei Hölderlin heißen, wobei der letztere immer die Versöhnung der beiden anderen mit sich bringt.
Diese poetische Konzeption grundiert auch die Gattungslehre Hölderlins. Bei jeder der drei von ihm erörterten Gattungen der Poesie – Lyrik, Epik, Tragödie – ist eine bestimmte Kombination der drei Töne zu verzeichnen, wobei diese auf einen der Töne als Hauptton abzielt, der ihre Stilart jeweils prägt, nämlich die Lyrik auf den idealischen, die Epik auf den naiven, die Dramatik auf den heroischen.
Dementsprechend gibt Bergmann seinen drei Filmen unterschiedliche Akzente: Er hat in der Tat mit Hilfe dieser poetischen Formeln des Dichters seine Bilder und Bildsequenzen gewählt, kombiniert und geschnitten. Wenn er den einen „Lyrische Suite“ (1992) genannt hat, können wir aufgrund der Anspielung den idealischen Ton erwarten, also ein „höheres“, durch Bilder sich erinnerndes Leben, – bei „Hölderlin Comics“ (1994) ist mit dem heroischen Stil zu rechnen, also mit einem konfliktuösen, tragischen Leben, – bei „Scardanelli“ (2000) mit dem naiven, also mit einem sinnlicheren, unmittelbaren Leben. Dabei waltet das Prinzip Hölderlins, alle drei Töne ins Spiel zu bringen, auch hier.
In der „Lyrischen Suite“, in der die idealische Seite hervorsticht, stellt sich der Nachvollzug der von Hölderlin in den späten Fragmenten genannten exklusiven Orte, wie etwa Gotthard, Rom und Vatikan, mit ihren politischen, das „Vaterland“ in Frage stellenden Konnotationen (einschließlich der Lesung des Gedichts „Der Tod fürs Vaterland“ aus einem NS-Propaganda-Film) als heroisch zu qualifizierendes Material dar, während die Interviews mit Menschen auf der Straße sowie die Trickanimation der Handschrift als naives Material zu werten wären. In „Hölderlin Comics“ wiederum wirkt zwar Hölderlins Außenseiter-Position vor und nach seiner Arretierung, wie sie durch die Zeugnisse der Zeitgenossen vor Augen tritt, leidenschaftlich und heroisch, aber in ihren biographischen Momenten naiv und in ihrer dichterischen Verarbeitung idealisch. Zwar schlagen in „Scardanelli“ die schwäbisch gesprochenen überlieferten Zitate über Hölderlins Exil im Turm einen naiven Ton an, aber sie betreffen eine heroisch errungene Situation, die die von Bergmann hergestellte Hölderlin-Maske unterstreicht, und kontrastieren mit den angespannten, wenn nicht gereizten Dialogen zwischen dem Internierten und seinen Besuchern, während die elegischen „Hyperion“-Zitate und die folgenden Jahreszeiten-Gedichte aus dieser Zeit anteilig eine idealische Sprache sprechen.
Um diese subkutane Dynamik und Flexibilität in der Trilogie der Hölderlin-Filme vor Augen zu führen und nachvollziehbar zu machen, entstand das für die Hölderlin-Rezeption und -Forschung ganz ungewöhnliche Unterfangen, von den drei Tönen geprägte, auf Bergmanns Hölderlin-Lektüre basierende Ausschnitte der drei Filme in einer Ausstellung miteinander ins Spiel zu bringen. Die Ausschnitte werden auf verschiedenen, aber einander zugeordneten Leinwänden gleichzeitig gezeigt – derart, daß der Betrachter die Möglichkeit hat, sie neben- und auch hintereinander im Raum anzusehen und zu hören. Der merkwürdige Titel der Ausstellung HIN verdankt sich den poetologischen Tabellen Hölderlins, in denen er den möglichen Tönewechsel für die einzelnen Gattungen, z.T. auch an Beispielen, in Abkürzungen vor Augen führt; die Abkürzung HIN enthält demnach die Anfangsbuchstaben der Töne: heroisch, idealisch, naiv.
Die Anordnung der Leinwände und Monitore in einem Raum der Moritzburg in Halle ist aus der Skizze unten ersichtlich. Jeweils für einen Film der Trilogie stehen drei Leinwände zur Verfügung. Bergmann hat das Verhältnis der Bilder jeweils eigens konstruiert, indem er die Ausschnitte aus dem jeweiligen Film als im Ton differierende aufeinander abstimmte.
Diese Triaden bilden den großen elliptischen Rahmen der Ausstellung, wobei an der vierten Seite der Ellipse auf zwei weiteren Leinwänden zusätzlich ein Film über das mutmaßlich von Hölderlin stammende Fragment „In lieblicher Bläue“ gezeigt wird. Dieser Film betrifft den idealischen Text, der von Walter Schmidinger gelesen wird, und zeigt den ihm zugrundeliegenden naiven Stoff, einen dem Dichter bekannten Kirchturm.
Im Zentrum des Raumes befindet sich noch ein Achteck; dessen Monitore sind fortlaufend aufgestellt. Sie bieten die vierte Produktion Bergmanns, den Interview-Film „Passion Hölderlin“ (2003) sowie Archiv-Material von allen Filmen, d.h. Sequenzen, die nicht in die Filme eingegangen sind, darunter z.B. Dialoge mit den Hölderlin-Forschern Bernhard Böschenstein, Gregor Wittkop und Wolfram Groddeck.
Zwischen den Triaden und dem Achteck gibt es acht Bänke mit beidseitigen Sitzgelegenheiten. Die Besucher haben, wenn sie nach außen gewandt sitzen, Bilder aus einem der drei Hölderlin-Filme von 1992, 1994 und 2000 sowie aus „In lieblicher Bläue“ vor sich. Ein Zuschauer kann aber auch schon die erste Leinwand des nächsten Films in Augenschein nehmen, also, wenn er der „Scardanelli“-Triade gegenübersitzt, zur Linken etwa einen Ausschnitt aus der „Lyrischen Suite“ oder zur Rechten aus „Hölderlin Comics“. Wenn er nach innen gewandt sitzt, blickt er auf die Sequenzen aus „Passion Hölderlin“ und der Entstehungsgeschichte aller Filme und anteilig auch dahinter auf Bildmaterial von den Triaden.
Die Bänke sind mit Kopfhörern versehen, die es ermöglichen, nur die zu der jeweiligen Filmsequenz gehörige Sprache oder Musik ungestört zu hören, wobei der Zuschauer das Gehörte auf eines der Bilder oder auf das Ensemble von drei Bildern beziehen kann.
Er kann auch Hören und Sehen von sich aus verteilen, etwa die Rezitation eines Gedichts mit dem visuellen Eindruck aus dem nebenstehenden Filmteil verbinden. Darüber hinaus können, wie der gewählte Sitz oder die Stellung im Raum es zulassen, gleich oder verschieden gestimmte Ausschnitte aus verschiedenen Filmen sich für den Besucher überschneiden, überblenden, wiederholen oder auch kontrastieren. So gewinnt dieser – wenigstens prinzipiell oder tendenziell – einen synästhetischen Bezug zum Ganzen. Diese Wirkung bedeutet eine Veranschaulichung des Verhältnisses und der Überlagerung der in der Dichtung realisierten konsonanten oder dissonanten Ton-Schichten, die die Hölderlin-Filme vor Augen und zu Gehör bringen wollen.
Der Effekt dieser Anordnung der Leinwände im Raum, die die Bezeichnung Ausstellung in der Tat verdient, besteht in einem Wahrnehmungsexperiment, das m. E. seinesgleichen suchen kann: Der Sehvorgang folgt nicht nur einer einzigen Bildsequenz, sondern muß gleichzeitig drei und mehr aufnehmen, die thematisch zusammengehören, aber unterschiedlichen Sphären entstammen: der Natur, der Geschichte, dem Schriftbild, der gesprochenen Sprache (durch den Mund erfahrener Schauspieler wie etwa Udo Samel, Otto Sander und Walter Schmidinger), und ihrer unterschiedlichen visuellen und akustischen Vermittlung: eher lyrisch oder episch oder dramatisch.
Ein Beispiel: Ein von dem Filmemacher Jean-Marie Straub gelesener heroischer Text aus dem Spätwerk, z.B. das Fragment vom Vatikan oder ein Absatz aus dem kritischen Schiller-Goethe-Briefwechsel, könnte auf diese Weise konfrontiert werden einerseits mit dem Reiseeindruck einer Gletscherzunge oder einer bewölkten Himmelszone (Natur) oder mit einem verkehrsreichen römischen Platz unter südlicher Sonne mit entsprechender Geräuschkulisse (Zivilisation) und andererseits mit einem Museumsraum (Kultur) oder mit einer Schriftpartie von Hölderlins Hand, von Schuberts Musik begleitet.
Wenn die jeweiligen Filmsequenzen einer Triade sich für den Zuschauer und Zuhörer zu einer Einheit fügen, die der Mehrschichtigkeit eines Hölderlinschen Gedichtes entsprechen soll bzw. der seiner einzelnen Aussagen, dann versteht es sich, daß keine Identität mit dem Modell des „Wechsels der Töne“ angestrebt ist. Jede Triade versucht nur, visuell und akustisch, ein Äquivalent für das zu bieten, was die sprachliche Dynamik bewirken wollte: eine dreifache Erkenntnis dessen, was der Dichter „Gang“, „Gestalt“ und „Geist“ der Naturgeschichte nannte. Die Übersetzung der Drei-Töne-Poetik in die Mehrdimensionalität der Wahrnehmung bleibt experimentell, wobei die sorgfältige Konstruktion und Kombinatorik der Filmsequenzen sich auch des Zufalls bedient. Gleichwohl lehrt sie auf diesem Umweg, die Leistung des dichterischen Verfahrens von Hölderlin besser zu verstehen und darüber hinaus dessen anthropologische Wirkung zu ahnen. Die Beziehung zur Wirklichkeit, das Verhältnis von Wahrnehmen und Erkennen ist auf die Probe gestellt: Die Zuordnung und Perspektive wird in der Vielstimmigkeit des in den Filmen jeweils fokussierten Gesehenen und Gehörten zwar aufrechterhalten, aber zugleich bereichert um Mehrdeutigkeit. Dieses Verfahren wird von Hölderlin einmal im Kommentar zu seiner Übersetzung eines Pindar-Fragments wie folgt auf den Punkt gebracht:
Ich habe zweideutig ein
Gemüth genau es zu sagen.
Während das „zweideutig“ hier für Pindar gilt, müßte Hölderlin im Falle seiner vom Wechsel der Töne geprägten Redeweise von „dreideutig“ sprechen, in „Germanien“ heißt es denn auch: „Dreifach umschreibe du es“, was nicht den altüberlieferten dreifachen Wortsinn meint. Auf diese Mehrdeutigkeit der Sprache und der Texte Hölderlins sollen das Angebot der Bilder und ihr Verhältnis zueinander in der Ausstellung aufmerksam machen. Gleichwohl wird Genauigkeit angestrebt – eine Genauigkeit, die der Vielstimmigkeit der Naturauffassung und des Weltbilds von Hölderlin entspricht und dem sich die Wahrnehmungsfähigkeit des Ausstellungsbesuchers anpassen muß.
Die in den Filmen jeweils bereits versuchte Übersetzung der Sprache Hölderlins in eine visuelle, nämlich bildliche und schriftliche, sowie eine auditive Sphäre erschließt und potenziert sich für den Zuschauer und Zuhörer; sie verlangt eine entsprechende Konzentration und Kreativität. Die Wahrnehmung ist mit verschiedenen Bild-Ensembles zugleich konfrontiert; diese Überflutung ist aber bereits strukturiert, gelenkt, gefiltert und gerade in ihrer Mittelbarkeit relevant. Bewirkt wird daher nicht Zerstreuung und das Auf- bzw. Untergehen im Bilderfluß, üblicher Effekt einer Reizüberflutung. Vielmehr verlangt und ermöglicht die Gleichzeitigkeit und die damit verbundene Vielfalt des Sichtbaren erkenntnismäßige Übersicht, die durch das Wiedererkennen und Erinnern einzelner Bilder und Verse erreicht und erleichtert wird. Hölderlins Sprache und sein Sprachgebrauch sind die Erkennungsmarke aller filmisch dargebotenen Natur- und Kulturmomente. Diese sollen und können in ihrer Mehrdimensionalität anschaubar und hörbar werden, wenn der Zuschauer und Zuhörer sich als solcher bewährt, indem er die Verfahrungsweise der Filme zurückzuübersetzen weiß.